Dr. med. Amateur

Während der längeren Seetörns oblag die medizinische Versorgung der Besatzung in den Händen des 3. Offiziers. So lag es auch in seinem Aufgabenbereich in der Mannschafts- sowie Offiziersmesse (Speise- und Aufenthaltsraum), während des Aufenthaltes in wärmeren Gefilden, Salztabletten zur Regulierung des Salzhaushaltes im menschlichen Körper anzubieten. Ferner lagen auf dem medizinischen Gabentisch noch Tabletten zur Malaria-Prophylaxe und Kondome. Gebrauchsanleitungen gab es natürlich nur für den Salzhaushalt und die Malaria-Vorbeugung. Leider bewahrten diese vorbeugenden Maßnahmen den Bordmedikus nicht vor mehr oder minder bösen Überraschungen.So stellte mich die Verletzung eines übergewichtigen Reinigers vor eine schier unlösbare Aufgabe. Eine ausgedehnte Feier war nach reichlichem Alkoholgenuss wohl etwas aus dem Ruder gelaufen und die beiden Kontrahenten meinten ihre Meinungsverschiedenheit mit Biergläsern und Flaschen austragen zu müssen. Am Ende blieb eine heftig blutende Stichverletzung im Oberschenkel. Der kolossale Umfang des Beines stellte mich, den Laien, bei der Wundversorgung vor eine schier unlösbare Aufgabe. Auch mit Assistenz eines zur Hilfe geholten Kollegen wollte es nicht gelingen, eine anscheinend verletzte Arterie mit einer Klammer zu verschließen. Da unsere Bemühungen wenig erfolgreich waren, wurde nach Absprache mit den südafrikanischen Behörden Kapstadt als Nothafen angelaufen. Auf Reede in Sichtweite der Gefängnisinsel Robbeneiland wurden wir von einem Motorboot erwartet. Der Doktor war voll des Lobes über unsere amateurhafte Erstversorgung. Mit einiger Genugtuung konnten wir dann beobachten, dass das Notarztteam einige Mühe hatte das verletzte Blutgefäß zu verschließen. Ein Krankenhausaufenthalt war nicht erforderlich und so konnte das Schiff nach dieser Stippvisite die Reise mit kompletter Besatzung fortsetzen.

Konsultationen dieser Art kamen zum Glück nicht allzu häufig vor. Grundursache für diese eingeforderten Einsätze war fast immer das berühmte Glas zu viel. Im Nachhinein war dann häufig der Hohn und Spott der Kollegen nach dem eigentlichen Missgeschick wesentlich schmerzhafter. Ich erinnere mich da nur allzu gut an zwei verhinderte Feuerspucker, die ich zu mitternächtlicher Stunde verarzten musste. Diese beiden alkoholisierten Helden hatten angeregt durch eine filmische Varieteeshow den Feuerspucker zu imitieren versucht. Anfangs waren sie, dem Zustand der angekokelten Kammerdekoration nach zu urteilen, mit dem aus der Mundhöhle ausgesprühten Feuerzeugbenzin recht erfolgreich. Irgendwann muss Ihnen der erhöhte Alkoholkonsum einen Streich gespielt haben und die zurückschlagende Flamme die Lippen versengt haben. Ihre völlig sinnlose Selbstversorgung nach diesen Verbrennungen zweiten Grades machten Verletzungen und Schmerzen nur noch schlimmer. Unfreiwillig hatten sie sich mit viel in das Gesicht geschmierter Butter und mit Mehl eingepuderten Lippen in Clowns verwandelt.

Einem Freund und Kollegen ist bei der ärztlichen Erstversorgung eines verletzten Besatzungsmitgliedes ein Kunstfehler passiert, welcher noch heute zu fortgeschrittener Stunde immer wieder gern erzählt wird – sehr zu seinem Missvergnügen. Opfer war damals der Schiffszimmermann, der in seiner Freizeit gerne und mit viel Geschick in der bordeigenen Werkstatt Möbel tischlerte. Das Unglück wollte es, dass er durch Unaufmerksamkeit oder durch eine plötzliche Schaukelbewegung des Schiffes mit der linken Hand in die laufende Kreissäge geriet und den Daumen säuberlich abtrennte. Der zur Hilfe eilende Dr. med. Amateur legte ihm fachgerecht einen Pressverband an. Zum Glück des verletzten Zimmermanns konnte der Funker einen in der Nähe befindlichen italienischen Passagierdampfer um ärztlichen Beistand bitten. Bei Sichtkontakt wurde der Verletzte per Rettungsboot ausgebootet und den Ärzten des Musikdampfers übergeben. Letztere erkundigten sich dann über Sprechfunk etwas ungehalten über den Verbleib des Fingergliedes. Meinem Kollegen wird das Eingeständnis, den Daumen Neptun geopfert zu haben, nicht leicht gefallen sein.

In so einem Moment die richtige Entscheidung zu fällen ist wahrhaftig nicht einfach. Während meiner Ausbildung zum Matrosen ist eine ähnliche Geschichte an Bord unseres Küstenmotorschiffes MS „Bremer Küper“ passiert. Einer meiner Kollegen wollte eine Flasche hochprozentigen Alkohols vor dem norwegischen Zoll verstecken. Das ausbaldowerte Versteck war genial – aber, wie sich später herausstellen sollte, auch nicht ungefährlich. Die an Deck stehenden, hohlen Ladebaumstützen konnte man mit einiger Kraftanstrengung in Flaschenhöhe hochstemmen. Der so freiwerdende Hohlraum bot Platz für die Schmuggelware und war, bei wieder in Position gebrachten Stützen, nicht einmal zu erahnen. Bei der Ausführung rutschte der Meisterschmuggler leider ab und das scharfkantige Eisenteil amputierte die Fingerkuppe des Zeigefingers. In Oslo wurde der Verletzte samt Fingerkuppe in das Krankenhaus transportiert. Der Fingerchirurg soll von unserer Fürsorge wenig angetan gewesen sein. Der Kollege wurde mit dick bandagierter Hand und der von uns vorsorglich in Schmuggelalkohol eingelegten Fingerkuppe zurück an Bord geschickt. Es entspricht nicht der Wahrheit, dass wir das gruselige Schaustück noch längere Zeit in einem Regal unserer Kammer aufbewahrt haben.

Häufig war der erfolgreichen Behandlung eines erkrankten Besatzungsmitgliedes eine fürsorgliche Gemeinschaftsaktion vorausgegangen. So ist mir die Erkrankung einer mitreisenden Ehefrau, während einer Ostasien-Reise, lebhaft in Erinnerung geblieben. Vorausschicken muss ich, dass Tutti aus dem berühmt-berüchtigten Hafenviertel Tanjung Prioks, dem Hafen von Jakarta, stammte. In einer der Bars oder Tanzschuppen hatte ihr späterer Ehemann, seiner eigenen Schilderung nach, sie kennengelernt. Bei dieser Liaison müssen Wolken von Schmetterlingen im Spiel gewesen sein. Zumindest bestand die komplette Kommunikation des Liebespaares aus Handzeichen. Der spätere Ehemann, ein Reiniger aus dem tiefsten Bayern, war weder der englischen noch der indonesischen Sprache mächtig. Tutti wiederum sprach neben den üblichen Brocken Kneipenenglisch kein Wort Deutsch, und schon gar kein Bayrisch. Trotzdem waren die Heiratsabsichten dem Bayer und seiner Tutti nicht auszutreiben. Wobei er dann eine Schicksalswarnung ignorierte oder auch nicht verstand. Schon eine Reise nach dieser Kneipenbekanntschaft hatte unser Reiniger neben allen erforderlichen Papieren auch einen schwarzen Anzug für die Hochzeit in Jakarta im Gepäck. Auf der Anreise im Indischen Ozean geriet das Schiff durch einen nie gefassten Feuerteufel in Brand. Die gesamten Besatzungsunterkünfte brannten aus. Schwerer wog, dass drei Besatzungsmitglieder bei dieser Katastrophe ihr Leben lassen mussten. Unser Bayer ließ sich durch nichts beirren und setzte trotz aller Widrigkeiten seinen Plan in die Tat um und entführte seine Tutti in seine bayrische Heimat. All diese Einzelheiten erfuhr ich, als ich die Ehefrau unseres Reinigers auf einer gemeinsamen Reise in Richtung Fernost als Patientin zu betreuen hatte. Trotz sprachlicher Schwierigkeiten konnte sie mir klarmachen, dass sie eine hartnäckige Magenverstimmung hätte. Mit der Annäherung an das indonesische und malaiische Inselarchipel verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand von Tag zu Tag. Bei meinen täglichen Krankenbesuchen habe ich mit Hilfe meines Freundes, unseres Schiffszimmermannes, der leidlich indonesisch (Bahase Indonesia) sprechen konnte, viel über ihr Essensmartyrium in Bayern erfahren. Die Verpflegung an Bord entsprach auch nicht ihrer Vorstellung von indonesischen Gaumenfreuden. Schon bald wurde uns klar, dass ihre Leidensgeschichte eine tiefere Ursache haben müsste. Die Diagnose „Heimweh“ stieß bei unserm Kapitän auf wenig Gegenliebe. Er vertraute dem in Port Kelang/Malaysia hinzugezogenen Arzt, der eine Schwangerschaft ausschließen konnte und reichlich Medikamente gegen eine Magenverstimmung verordnete. Trotz dieser Diagnose verschlechterte sich Tuttis Zustand zusehends. Die Genesung setzte augenblicklich ein, als mein Freund Schorsch und ich bei dem Alten und der Agentur unsere Heimwehdiagnose durchsetzen konnten und das Mädel in einem Flieger in Richtung Indonesien saß. Ihrer Scheinehe und Bayern wird sie keiner Träne nachgeweint haben.